Wie schreibt man eine (kunst)wissenschaftliche Arbeit?
Nachdenken, Analysieren und Schreiben über Kunst sind interessante und lustvolle Angelegenheiten, die zu Ergebnissen in Form von Texten führen sollten, die andere neugierig und gerne lesen möchten. Die besondere Herausforderung besteht darin, dass wir uns in einem Raum des Uneindeutigen bewegen und von unseren Wahrnehmungen ausgehen müssen, die ebenfalls vage sind. Den Gegenstand oder das Phänomen möglichst genau wahrzunehmen, stellt die erste Aufgabe dar. Dabei ist aufmerksam, auch selbstkritisch danach zu fragen, welche Empfindungen oder auch vorgefassten Einschätzungen sich in diese Wahrnehmung mischen.
1. Betrachten
Die Betrachtung mit allen angesprochenen Sinnen als erster Arbeitsschritt erfordert Zeit und wiederholtes Schauen,
Hören etc. auch mit unterschiedlichen Blickeinstellungen (Gesamteindruck, Details, Distanzen). Wo immer möglich
soll sie den tatsächlichen künstlerischen Arbeiten im eigentlichen Präsentationszusammenhang gelten, da dieser
die Wahrnehmungsweise mitbestimmt. Sie soll also im Atelier, während der Aufführung, im Museum oder der Ausstellungssituation, im Kino oder vor dem Bildschirm erfolgen. Reproduktionen und Dokumentationen dienen der
Erinnerung oder Rekonstruktion und sind wichtige Arbeitsbehelfe. Wo ausschließlich mit diesen Arbeitsbehelfen
gearbeitet werden muss, ist auf deren Qualität zu achten und zu bedenken, inwiefern sie die Wahrnehmungsweise
bereits formen.
2. Beschreiben
In einem zweiten Arbeitsschritt erfolgt eine präzise Beschreibung. Dies erfordert sprachliches Geschick, die Beschreibung sollte deshalb mehrfach überarbeitet werden – auch nach den folgenden Arbeitsschritten. Handelt es sich um
eine einzelne Werkanalyse (z.B. Gabriele Münter: Der blaue Bagger, 1935-37) stehen Aspekte der Form, der Komposition oder Erzählweise, des Stils oder der Handschrift, die Farbgebung, materielle und technische Aspekte, die
Rezeptionssituation, der Erhaltungszustand im Vordergrund, Inhalt und Ikonographie werden zuerst zurückgestellt.
Handelt es sich um ein Phänomen (z.B. Baustellen in der Malerei der 1930er Jahre; Gruben und Höhlen im Zentrum
visueller Konstruktionen...) ist mit einer Reihe an Werken zu arbeiten und stärker auf den angesprochenen Aspekt zu
fokussieren. Auch dabei gilt aber, Interpretation vorerst zu vermeiden. Wie ausführlich die Beschreibung schließlich
Eingang in den zu verfertigenden Text findet, ist abhängig von der gewählten Fragestellung. Ziel ist, der Leserin, dem
Leser eine gute Vorstellung des Werkes bzw. der Arbeiten zu verschaffen und dabei bereits Beobachtungen in den
Vordergrund zu spielen, welche für die Fragestellung wichtig sind.
3. Formulieren einer Fragestellung, Konzepterstellung
Während der ersten beiden Arbeitsschritte werden sich Fragen eingestellt haben. Eine rahmende Fragestellung
kann auch durch eine Lehrveranstaltung bereits vorgegeben sein. Diese muss für das eigene Vorhaben nun präzisiert
werden. Es gilt, deutlich zu formulieren, was in der folgenden Arbeit Gegenstand des Nachdenkens sein wird. Im Fall
einer einzelnen Werkanalyse sind die zuvor genannten Aspekte zusammenzudenken, mit Inhaltlichem zu verknüpfen und zu kontextualisieren (künstlerisches Umfeld, historische Bezüge, soziale und politische Fragen, die berührt
werden; Modi der Repräsentation, kulturell spezifische Vorannahmen oder Codes, die hereinspielen) oder zu theoretisieren (Verbindung zu kunsttheoretischen und ästhetischen Fragen). Wird ein Aspekt herausgegriffen oder ein
übergreifendes Phänomen diskutiert, ist eine stärker vergleichende Perspektive einzunehmen. – Jede künstlerische
Arbeit wirft ganz unterschiedliche Fragen auf; wichtig ist, dass wir jedenfalls einem eigenen Interesse folgen und die
Frage so formulieren, dass sie auch plausibel diskutiert werden kann, sie darf also nicht zu ausgreifend sein. Im Anschluss sollte ein Konzept im Sinne einer vorläufigen Gliederung erstellt werden, die dann laufend überarbeitet und
verfeinert werden kann.
4. Informationen sammeln, Recherchieren
In diesem Arbeitsschritt wird die wissenschaftliche Literatur zur gewählten Fragestellung eruiert und gesichtet,
ebenso verfügbare Informationen im Netz oder dort publizierte Texte und Einträge in Lexika (vgl. http://www.angewandtekunstgeschichte.net/literaturrecherche). Im Zuge dessen kann es notwendig sein, die eigene Fragestellung
nochmals zu revidieren. Bevor man sich an die eigentliche Lektüre macht, ist es sinnvoll, sich Überblick zu verschaffen, eine vollständige Bibliographie zu verfassen (Datenbankrecherche mit Schlagworten, nicht nur mit Namen), die
entsprechenden Texte durchzuschauen und zu entscheiden, welche tatsächlich relevant sein und dementsprechend
herangezogen werden. Während der Lektürearbeit entsteht so aus einer Bibliographie eine Liste der verwendeten
Literatur. Neben der Erfassung der Lektüre der selbständig (Monographien) und der unselbständig publizierten Texte
(Aufsätze in Fachzeitschriften, Sammelbänden, Katalogen), ist hilfreich, über Gesprächspartner*innen nachzudenken.
Können Interviews sinnvoll sein, Gespräche mit Künstler*innen, Projektbeteiligten, Kolleg*innen, Freund*innen?
5. Lesen und Sprechen
Der fünfte Arbeitsschritt besteht im Durcharbeiten der Literatur und im Führen der als hilfreich erachteten Gespräche.
Es empfiehlt sich, Exzerpte anzufertigen, da nicht immer vorauszusehen ist, an welcher Stelle die konsultierte Literatur (noch) benötigt werden wird. Es soll eine kritische Perspektive auf das Gelesene eingenommen werden. Wer
stellt welche Fragen weshalb? Was sind die Strategien der Beantwortung? Welche Vorannahmen wurden getroffen?
Welche Methode kommt zum Einsatz? Was wurde übersehen oder wird unterschlagen?
Darüberhinaus sollten Gespräche gesucht werden, sei es, dass mit Kolleg*innen über die Lektüren gesprochen wird,
der eigene Gedankengang im Gespräch versuchsweise dargelegt wird, sei es, dass Interviews oder Gespräche mit
Expert*innen geführt werden. Hierbei können Tonaufnahmen hilfreich sein.
6. Schreiben
Zu diesen fünf Arbeitsschritten sollten Notizen gemacht worden sein, die zusammenfassen, in denen neue und angrenzende Fragen formuliert, allfällige Widersprüche oder Irritationen festgehalten wurden. Zusammen mit der Beschreibung, der formulierten Fragestellung, den Exzerpten und Notizen kann nun ein Text ausformuliert werden, der
entlang einer möglichst eigenständigen Argumentation organisiert werden soll. Wichtig ist, allzu Entferntes, das sich
im Zuge der Recherche angesammelt hat, auch wieder zu löschen, sodass ein stringenter Text entstehen kann. Es
ist auf eine nachvollziehbare Argumentation und auf klare Formulierungen zu achten, was nicht heißt, dass allfällige
Widersprüche oder Diskrepanzen geglättet werden sollen.
In der Einleitung sollten die Fragestellung und das Material vorgestellt werden: Was ist Thema des Textes? Um
welche künstlerischen Arbeiten geht es, welche Literatur/welche Quellen wurden verwendet? Der weitere Aufbau
richtet sich nach Thema/Fragestellung. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Struktur des Textes gelten. Ist die
Fragestellung deutlich formuliert? Folgen die Absätze nachvollziehbar aufeinander, sind die Übergänge von einem
Gedanken zum nächsten ausformuliert? Ist eindeutig vermittelt, was übernommene Gedanken, Schlussfolgerungen
anderer Autor*innen sind, was die eigenen? (vgl. www.angewandtekunstgeschichte.net/uploads/20190130_Formale-Anforderungen-für-wissenschaftliche-Texte.pdf) Zitate und Abbildungen im Textfluss sind nicht selbsterklärend,
sondern müssen kommentiert und kontextualisiert werden: Was sollen sie jeweils veranschaulichen? Worauf soll der/
die Leser/in achten?
Am Ende sollte etwas Zeit für Korrekturgänge bleiben – ein Arbeitsschritt, der auch die eigene Zufriedenheit meist
deutlich hebt!
Literaturempfehlung
Andrei Pop, How to Do Things with Pictures. A Guide to Writing in Art History.
https://writingproject.fas.harvard.edu/files/hwp/files/writing_about_art_final_web.pdf
Link
Wie schreibt man eine (kunst)wissenschaftliche Arbeit.pdf